Farbenfrohe Trachten, fröhliche Kinder und volle Kirchen: Niemand würde vermuten, dass es sich bei der indischen Bevölkerungsgruppe der Mizos um ehemalige Kopfjäger handelt. Tabitha Bühne hat die Menschen besucht, deren Helden Missionare sind.
Von Tabitha Bühne
Ich habe Angst. Das Flugzeug, in dem ich sitze, scheint Probleme zu haben. Die kleine Maschine ruckelt gewaltig. Plötzlich sacken wir ab und die Stewardess fällt beim Ausschenken der Getränke hin. Tabletts und Becher liegen auf dem Gang und den Hosen einiger Passagiere. Es fühlt sich an, als würde ein Sturm die kleine Maschine durchschütteln. Die junge Flugbegleiterin versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Sie rennt zum Hörer, schaut immer wieder zu den Tragflächen. Dann beginnt sie Ordnung zu schaffen und setzt sich danach mir gegenüber. Ich sitze gerne auf dem Notfallsitz – aber jetzt ist es irgendwie unangenehm. „Sind das normale Turbulenzen in dieser Gegend?“ frage ich sie. Sie schüttelt den Kopf. Ich schaue aus dem Fenster. Hügel, Wälder, Wind – all das weckt Heimatgefühle. Dabei sind wir auf dem Weg nach Mizoram – einem Bundesstaat im Nordosten Indiens, von dem ich bis vor Kurzem noch nie gehört hatte. Der Flieger landet und wir kommen erleichtert und unbeschadet an. Der Pilot geht etwas bleichgesichtig aus dem Cockpit. Beim Aussteigen sehe ich ein Kreuz. Das habe ich noch nie auf einem Flughafen gesehen. Auch während der Fahrt nach Ayzawl (der Hauptstadt) stehen hier und da Schilder mit Bibelversen. Das ist ungewohnt, vor allem in Indien.
Die 10 Gebote der Christen in Mizoram
Neben Nagaland und Meghalaya gehört auch Mizoram zu den drei Bundesstaaten Indiens mit christlicher Bevölkerungsmehrheit. Es grenzt an die Bundesstaaten Assam, Tripura und Manipur sowie an Bangladesch und Myanmar. Mizoram hat die zweithöchste Alphabetisierungsquote in Indien. Die Menschen hier gehören zum größten Teil zu den Stämmen der Mizos. Fast 90 % der Bevölkerung sind Christen. Sonntags haben die Geschäfte zu und die Kirchen sind voll. Auch der Premierminister geht zum Gottesdienst. Bevor er Christ wurde, war er ein Freiheitskämpfer. Glauben ist hier eine ganz normale Sache und viele Menschen tragen ihre Bibeln offen in der Hand. Sie singen viel und gerne, sind sehr musikalisch und treffen sich mehrfach in der Woche. Sehr bekannt in Mizoram ist die YMO (Young Mizo Association). Diese Jugendorganisation ist sehr in die Sozialhilfe involviert. Sie helfen bei Beerdigungen, haben schon mehr als 250 Büchereien geöffnet und über 2500 öffentliche Toiletten errichtet, die sie auch sauber halten. Die jungen Menschen wollen ihre Freizeit sinnvoll nutzen, Traditionen pflegen, den Schwachen helfen und christliche Werte in Ehren halten. Interessant fand ich auch diese „10 Gebote“, die sich die Mitglieder selbst erteilt haben. Ich habe sie mal frei übersetzt:
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Selbstdisziplin und Gerechtigkeit
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Die Familie gut behandeln
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Ehrlichkeit
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Toleranz
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Höflichkeit
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Ritterliche Tugend
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Soziales Engagement
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Respekt für Religion
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Kultur bewahren
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Alkohol und Drogen meiden
Neben der Natur erinnert mich vor allem die Fußballbegeisterung an zu Hause. Während in den meisten Staaten vor allem Cricket beliebt ist, wird hier gebolzt was das Zeug hält. Ich sehe keinen Müll in den Dörfern und Städten, außerdem wird nicht auf Straßen oder an Hauswände gepinkelt – wie ich es in anderen Orten Indiens leider andauernd erlebe. Keiner starrt mich an, die Männer behandeln mich ganz normal. Die Mizos tragen westliche Klamotten, rauchen leider recht viel und mögen koreanische Serien. Die Frauen sind gleichberechtigt und tragen viel Verantwortung. Eine von ihnen, Emmy, lerne ich während meiner Zeit hier besser kennen. Sie ist 29 Jahre alt, Reporterin und eine starke Persönlichkeit. Wir verstehen uns sofort gut, haben beide sechs Geschwister und einen ausgeprägten Willen. Sie ist sehr stolz, eine Mizo zu sein. Sie hat einige Jahre in anderen Ecken Indiens gelebt und wurde dort oft belästigt und beschimpft. Besonders schlimm ist es in Delhi, wo ich lebe. „Sie behandeln mich, als wäre ich billig und weniger wert, nennen mich Schlitzauge und belästigen mich. Das ist schlimm. So was kenne ich hier nicht. Die Mizo-Männer gaffen nicht. Wir Frauen sind genauso viel wert wie Männer und es gibt auch kein Kastendenken. Wenn ich wieder nach Hause komme merke ich immer, wie toll es ist, solche Werte zu haben: Dass alle Menschen gleichwertig sind, dass wir uns gegenseitig helfen und lieben. Das war nicht immer so. Früher waren wir berühmte Kopfjäger, wir waren brutale Krieger. Wir hatten kein gutes Leben und auch keine Hoffnung. Aber dann kamen die britischen Missionare. Ihnen verdanken wir alles! Unsere Bildung, unsere Werte und dass wir Frieden und Freude haben!“ Ich habe, glaube ich, noch nie so eine Begeisterung über Missionare erlebt. Hier sind sie Helden. Die Mizos leiten ihre Kirchen seit langer Zeit selbst und haben auch noch einige alte Stammes-Feste und Rituale behalten. Ich habe mir das „Chapchar Kut“ angeschaut – ein Frühjahrsfest, das die Mizos jedes Jahr im März feiern. 2000 Mitglieder der YMA zeigen „Cheraw“ und Bambus-Tänze, es werden Volkslieder gesungen und volkstümliche Spiele gespielt. „Auf dem gleichen Platz“, erklärt mir Emmy, „wurde früher getanzt und gefeiert, wenn ein Feind besiegt worden war.“ Natürlich sind wir hier nicht im Paradies und es gibt Probleme – wie der hohe Konsum von Alkohol und Drogen, die von Myanmar eingeschleust werden. Auch die Schönheitsideale sind grenzwertig. So benutzen viele Mädchen Bleichcremes und -pillen, ohne die gesundheitlichen Folgen zu bedenken. Das ist allerdings ein Phänomen, das sich überall in Indien feststellen lässt.
Die „Größte Familie der Welt“ lebt in Indien
Auf dem Weg zur „Größten Familie der Welt“ (die 2 Stunden von Ayzawl lebt) kommen wir auf dem Feldweg durch die Hügellandschaft nur mühsam voran. Als wir das Dorf erreichen, wo die größte Familie der Welt leben soll, seufzt Emmy. Sie hat schon ein paar Mal mit diesem Sektierer geredet, der 39 Frauen hat und seine Sippe durch strenges Regiment und Abschottung zusammenhält. Er hält sich selbst für einen „Gottgesandten“. Es ist skurril, hier leben fast 200 Menschen in einem Haus, es gibt eine Farm mit mehr als 900 Schweinen, eine eigene Schule und ein Stadion, wo die Kinder gerade Fußball spielen. Ich habe keine Ahnung, wie man sich freiwillig mit 38 anderen Frauen einen Mann teilen und jeden Morgen um 4.30 Uhr aufstehen kann, um das Frühstück vorzubereiten. Die Frauen sind unheimlich nett, gastfreundlich – und doch sehr ängstlich. Sie dürfen kein Interview geben, der „Chef“ hat es den Frauen verboten. Nur der Enkel darf das, allerdings redet er nur mit der Übersetzerin und behandelt uns sehr kühl. Es ist schon komisch, dass so eine Gemeinschaft überhaupt erlaubt ist. Auf dem Weg in die Stadt redet Emmy ohne Unterlass über ihre Eltern und Geschwister. Wir kommen beide aus heilen großen Familien und sind nach diesem Tag noch dankbarer für dieses Geschenk.
Der Rückflug wird besser, auch wenn es wieder Turbulenzen gibt. Diesmal bittet mich ein junger Stuart, auf einem Flugbegleitersitz Platz zu nehmen, weil ich meinen Sitz gerade nicht erreichen kann, da Essen ausgeteilt wird. Ich frage ihn, ob er manchmal Angst hat, wenn es so ruckelt. Er lächelt: „Nein. Irgendwann müssen wir ja alle sterben, also ist das schon ok!“ So kann man es auch sehen. Ich schaue aus dem Fenster. Es gibt keine Hügel und Wälder mehr, nur noch eine graue Suppe – den Smog über Delhi. Ich werde Mizoram ein bisschen vermissen. Und sollte meine Flugangst sich in Luft auflösen, komme ich wieder. Außerdem nehme ich mir vor, mich mal mehr mit der Geschichte des CVJM auseinanderzusetzen. Sich für die Gesellschaft zu engagieren, kann so viel bewegen – das hat mir die Zeit in diesem abgeschiedenen Bundesstaat gezeigt.
Über Mizoram
Nach der Expansion der britischen Kolonialmacht, Raubzügen der kriegerischen Stämme Mizorams und der Unterwerfung durch die Briten gehörte Mizoram ab 1895 offiziell zu Britisch-Indien. Die englischen Missionare kamen nach Mizoram und die Einheimischen wandten sich von der animalistischen Religion, der Sammlung von verfeindeten Menschenköpfen und anderen brutalen Ritualen ab. Nach der Unabhängigkeit Indiens (1947) wurde Mizoram dann Teil des Bundesstaats Assam. Nach einer Hungersnot kam es zu einer politischen Bewegung, denn die Mizos strebten eine vollständige Unabhängigkeit an. Es gab Aufstände und der Widerstand hielt an. 1987 wurde Mizoram ein eigenständiger Bundesstaat. Am liebsten würden die Mizos ganz unabhängig von Indien sein, aber das bleibt wohl ein Traum.
Tabitha Bühne lebt seit dem Frühjahr 2016 in Indien. Sie ist Ultramarathon-Läuferin, Hörspielautorin, Ernährungsberaterin und Medienwissenschaftlerin. Für ihren Blog „Zwischen Safran und Sari“ hält sie ihre Erlebnisse aus diesem vielfältigen Land in Texten und Bildern fest.
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